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Friedrich Schröder-Sonnenstern

Deutschland, 11.9.1892, Kaukehmen - 10.5.1982, Berlin

Malerei

«Friedrich der Einzige» wie er sich gerne nannte, hatte viele Gesichter aber eine Mission:

«Meine Philosophie ist die Hauptsache. Aber wer keinen Verstand hat, kann das nicht beurteilen. Ich betrachte die Menschen als dumme Kinder, die verkehrt eingeschult sind. Kinder wollen Bilder sehen. Darum male ich Bilder, denn ich bin ein Kinderfreund.»

Zu malen begann Friedrich Schröder, so sein bürgerlicher Name, erst im Alter von 57 Jahren.

Bis dahin hatte er ein abenteuerliches Leben hinter sich gebracht. Als Sohn eines trunksüchtigen Briefboten und einer nervenkranken Mutter, kam er in der Gegend von Tilsit am 11. September 1892 in Kaukehmen als zweites von dreizehn Kindern zur Welt. In der Schule fiel er mit einem eigenwilligen und widerborstigen Charakter auf. In der kaiserlich-preussischen Ära herrschte in der Schule – wie in allen anderen «Betrieben», «Asylen» und «Anstalten» – der Kasernenhofdrill von «Zucht und Ordnung», dessen Hauptzweck es war, den individuellen Willen zu brechen und den Einzelnen auf «Triebverzicht» zu trimmen. Wer von der Normalität abwich und auffiel, der wurde «auf den Pfad der Tugend» zurückgedrängt oder in eine Aussenseiterrolle gestossen.

Seit dem 18. Jahrhundert dominierte eine liberale Ideologie, die den Menschen von allen adeligen Privilegien, zünftischen Vorschriften und hausherrschaftlichen Abhängigkeiten «befreit» sah. Auf ihrer dunklen Kehrseite bedingte sie allerdings nebst den tiefen sozialen Verwerfungen einen gewaltigen Normalisierungszwang. Den bekam auch der junge Friedrich Schröder zu spüren – umso mehr, als Preussen in seiner kapitalistischen Entwicklung England und Frankreich hinterher hinkte und mit allen – auch gewaltsamen – Mitteln versuchen musste, seine relative Rückständigkeit zu beseitigen, wollte es dauerhaft, und das hiess: nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch, in die erste Liga der «europäischen Grössmächte» aufsteigen.

«Der Lehrer in der Schule sagt: «Ja, liebe Kinder, alles im Leben hat mal eine Ende, nur die Wurst hat zwei Enden.»

Ich hebe die Hand hoch, ich war immer so oppositionell.

Da sagt er: «Fritz, was hast du denn?» «Herr Lehrer, für mich hat die Wurst drei Enden!» «Na hört mal, Kinder, hört! Friedrich hat‘ nen Klaps.» «Ja, sehen Sie: Die Wurst hat vorne ein Ende, hinten hat sie auch ein Ende, und wenn ich die Wurst auffresse, hat sie noch ein Ende. Hat also drei Enden. Mit und ohne Hände.»

«Kinder, jetzt sehr ihr ja, dass Friedrich einen Vogel hat.»

So kam es, dass Friedrich Schröder – trotz aller liberaler Rhetorik der «natürlichen Gleichheit aller Menschen» und daher des individuellen Rechts auf «freie Selbstentfaltung» schon im Alter von 14 Jahren die Bekanntschaft mit der Zwangserziehungsanstalt machte.

Er versuchte sich in einer Gärtnerlehre, landete wieder in einer Erziehungsanstalt. Dann verdiente er sich sein Leben als Meiereigehilfe. Mit 20 Jahren wurde er in eine Irrenanstalt gebracht.

Später führte er ein Vagabundenleben, bettelte, schmuggelte, handelte. Er wurde als Geisteskranker vom Kriegsdienst befreit. Es folgte ein erneuter Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt 1918/19. Schliesslich wurde er entmündigt.

Er ging nach Berlin, verbrachte unter dem Namen Gustav Gnass mehr als zehn Jahre. Als Sonnenkönig Eliot der Erste» wurde er Führer einer religiös-mystischen Sekte. Er verteilte seine Einkünfte an die Armen und ging als «Brötchenfürst Schöneberg» in die Berliner Historie der zwanziger Jahre ein. Dann trat er als Wahrsager und Magnetopath auf, kam immer wieder wegen Schwindeleien und unerlaubter Heiltätigkeit mit den Gesetzen in Konflikt und wurde 1933 in Norddeutschland einmal mehr in eine Irrenanstalt gebracht.

Im Krieg tauchte er als Magaziner in einem Luftwaffendepot auf, dann in einem Straflager. Er überlebte die Nazizeit.  Nach dem Krieg begann er mit seiner Lebensgefährtin «Tante Martha» Brennholz aus den Ruinen hervorzuklauben und sackweise zu verkaufen.

In dieser Zeit des Elends und der Verzweiflung überkam ihn eine neue Besessenheit: «An Sonnensterns Wesen soll die ganze Welt genesen.» Er fertigte Gedichte, kleine Texte und Manuskripte, die nirgends angenommen wurden. Schliesslich begann er zu seinen Texten Illustrationen zu zeichnen. Seine Auftritte in der Kunstakademie wurden dank seines Show-Talents ebenso zu Skandalen wie seine erste Ausstellung in einer Berliner Galerie.

Der Sonnenstern stieg auf. Hans Bellmer, George Pompidou, Henry Miller, Friedrich Dürrenmatt, die Baronin Rothschild, Friedensreich Hundertwasser begleiteten seinen damals beunruhigenden Einzug in die Galerien.

Sein Werk fiel in seine Zeit, in der die Surrealisten negative gesellschaftliche Etikettierungen wie «pathologisch» in subversive Auszeichnungen umzumünzen begannen. Heute rechnet man Schröder-Sonnenstern zu den Art-Brut-Künstlern, eine Bezeichnung, die auf den französischen Künstler Jean Dubuffet zurückgeht und die schöpferische Tätigkeit von Randgruppen unserer Gesellschaft bezeichnet, die sich mit dem traditionellen Kunstbegriff schon deshalb nicht auseinander setzten, weil sie ihn meistens gar nicht kannten.

Bis 1958 entstanden etwa 104 grossformatige Bilder. Es ist möglich, dass Sonnenstern seine Bilder in einer Situation des psychischen Ausnahmezustands schaffen musste, um sich beim Zeichnen dann selber zu heilen und danach keinen Anlass mehr zu haben, um neue Werke zu entwerfen.

Nach einer grossen internationalen Surrealisten Ausstellung in Paris begann er überwiegend Bilder im dem Malkarton-Format  50 x 70 und 70 x 100 Zentimeter nach selbstgefertigten Schablonen, die er im Durchpausverfahren auf die Kartons übertrug, auszuführen.

Seine Bilder sind Illustrationen seiner persönlichen Philosophie, Hohelieder auf den Sexus, Anklagen gegen die doppelte Moral, die Kaltherzigkeit und Paragraphen. Oft sind seine Werke in schriftlichen Kommentaren erläutert. Sein Hauptthema kreist um Gegensatzpaare. Es gibt stets nur ein Entweder-Oder, Gut-Böse, Anziehung- Abstossung, Beherrschen-Beherrscht sein. Die radikal formulierte gesellschaftliche Kritik erscheint in der intensiven und reichen Farbigkeit harter Farbstifte. Kugelrunde Hinterbacken, Riesenbrüste, Phallus und Klitoris, Fratzen, Zähne, Schweinsköpfe bevölkern eine phantastische Welt, eine «Mondwelt», die als verschlüsselte Satiren auf den Bewusstseinszustand unseres eigenen Planeten lesbar sind.

Auf dem Zenit seines Ruhmes begann er zu trinken. Da er nie lernte, mit Geld umzugehen, nicht mehr fähig war, den bürgerlich-etablierten Habitus - «mit Häuschen und Garten» - sich spät anzueignen, streute er sein Geld scheinbar sinnlos um sich, vorzugsweise in den Kneipen Berlins.


Text: Thomas Ragni

 

 

Verfübare Kunstwerke (Auswahl)

Literatur

Jes Petersen (Hg): «Die Pferdearschbetrachtungen des Friedrich Schröder-Sonnenstern», München 1972

E. Goffman, Asyle, Frankfurt 1984 M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt 1985

S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt 1983

F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW Bd.2, Berlin 1976 (zuerst 1845)

W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus, in: R. Kühnl (Hg), Texte zur Faschismusdiskussion I, Frankfurt 1983.

Peter Gorsen:«Rückblickend auf Friedrich Schröder-Sonnenstern.» in: «Friedrich Schröder-Sonnenstern. Trostlied für Aus- und Angebombte.», Wien 1981